Ein Kirchhof mitten im Wald

03.04.2020

Guten Tag sehr geehrte Traumdeuter,

gern folge ich Ihrer Einladung, Ihnen einen Traum zu schicken, schreiben Sie doch, er sei willkommen.

Willkommen in einer Zeit, die träumen fast zur Notwendigkeit werden lässt – sind doch die Räume, in denen wir uns bewegen können, eingeschränkt. Träume, Tag- und Nachtträume machen Bewegungen und Begegnungen möglich, die in der realen Welt unmöglich sind. Zur Zeit.

Doch was ist real, was ist es nicht. Sind Traumwelten weniger real, als der Albtraum, der durch die Straßen weht, sich in Windfängen von Supermärkten verfängt, aus Desinfektionsflaschen zu uns herüberweht, uns einnebelt? Dann lieber träumen …

Mit herzlichen Grüßen aus einem sehr leisen Berlin

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Traum: Ein Kirchhof mitten im Wald

Ich betrete einen düsteren Raum, dessen hintere rechte Ecke vollständig von einem braunen Holztisch eingenommen wird, der an zwei Seiten von einer Eckbank mit beigen Bezügen sowie zwei Stühlen an den offenen Seiten umzingelt ist. Das Metall des alten Kronleuchters an der Decke ist dunkel und stumpf, durch die Schirmchen aus dickem gelblichen Pergament fällt trübes Licht auf den Tisch. Als ich über den abgetretenen Teppich zum Tisch hinüber gehen will, stolpere ich über die aufgerollte Kante einer Brücke und verliere die Balance. Strauchelnd lande ich unsanft vor einem halbhohen Möbelstück, klammere mich an seinen hölzernen Rand. Unter meinen Fingerspitzen fühle ich Schnitzereien: Ranken und Kreise mit Ornamenten in deren Mitte. Ich gehe die zwei Schritte auf die schummrige Lichtinsel zu und setzte mich auf einen der Stühle. Auf dem Tisch liegen aufgeschlagen ein altes braunes Fotoalbum, mehrere Stapel kleiner Fotoabzüge, eine geöffnete Tube Kleber. Nun weiß ich, ich war schon einmal hier. Wollte das Fotoalbum bestücken, als Geschenk an meinen Vater. Wahllos greife ich nach einem der Stapel, betrachte das oberste vergilbte Schwarz-weiß-Foto: ein Kirchhof mitten im Wald. Aus dem offenen Portal der kleinen Kirche kommt eine Hochzeitsgesellschaft, Braut und Bräutigam voran. Als ich durch die Lupe blicke, verwandelt sich das Foto in ein Gemälde, das mich unmittelbar an Chagall erinnert: Dunkle Blautöne verschatten die linke Seite des Himmels über blau-grünen Föhren, die rechte leuchtet in orangenen Tönen eines Sonnenuntergangs. Auf die Menschen, die aus dem Dunkel der Kirche treten, scheint jedoch eine helle Mittagssonne. Plötzlich meine ich, eine Bewegung wahrzunehmen: Eine fliegende Ziege?

Tiefer und immer tiefer beuge ich mich über das Gemäldefoto, halte seinen vergoldeten Rahmen fest in beiden Händen – und stürze kopfüber ins Bild. Hart lande ich auf dem Kirchhof, die Hochzeitsgesellschaft ist verschwunden, der Himmel einheitlich dunkelblau. Dem kleinen Weg folgend verlasse ich das Gelände durch eine schmale quietschende Pforte und bin mitten im Wald. Ich weiß, dass der Weg zu einer Wiese führt und folge ihm auch weiterhin. Hier ist es so dunkel, dort wird es hell sein – hoffe ich. Unmittelbar darauf betrete ich die Wiese und schaue mich um. Grün erstreckt sie sich bis fast zum Horizont. Der ist dunkel. Ein Gefühl der Bedrohung geht von ihm aus. Unschlüssig stehe ich da und überlege, ob ich nicht doch zurück in den Wald will. Als ich noch einmal zum Horizont blicke, ist die Wiese geschrumpft oder der Horizont näher gerückt. Hinter mir höre ich rennende große Pfoten: Ein Rudel Wölfe jagt aus dem Wald auf mich zu. Ich flüchte nach vorn, auf den Horizont zu. Kaninchen hoppeln mir von rechts und links in den Weg. Ich muss die Kaninchen mit Heu anlocken, denke ich und streue im Laufen Heu hinter mich. Dann werfe ich es aus immer gefüllten Händen rechts von mir auf die Wiese. Renne auf die Wiese und werfe weitere Hände voll Heu so weit ich es eben vermag. Die Kaninchen sollen, angelockt vom Heu, in Richtung der Wölfe laufen und diese von uns ablenken. Die Kaninchen kommen, die Wölfe auch. Auf dem Rücken der Wölfe leuchten die roten Zeichen der Schrift der Engel. Wir rennen nach links, schlagen Haken. Rosa Kaninchen und dunkelbraune Wölfe verfolgen uns. Rotten sich zu einer Meute zusammen. Alle rennen, jagen mit keuchendem Atem und heraushängenden Zungen – ich kann sie sehen, obwohl sie hinter mir sind – hinter uns her. Rennen, jagen, keuchen, schnell, schneller.

Ich komme plötzlich nicht mehr vom Fleck, bleibe stecken in aufgewühlter feuchter brauner Erde. Rechts von mir ragt plötzlich eine hohe Hecke auf. Judith zeigt auf ein Loch in der Hecke und winkt, ich solle darauf zuhalten. Quälend langsam ziehe ich meine Füße aus dem Morast und stehe vor dem Loch, das sich in ein niedriges Schrebergartentor verwandelt. Ein großer Wolf rennt gegen die andere Seite des Tores an, quetscht seine Pfoten durch das Gitterwerk. Je mehr von ihm auf unsere Seite durchdringt, desto mehr verwandelt er sich in ein dickes schwarzes Schwein, dann in die Zeichnung desselben. Judith und ich blicken uns an, bücken uns und kriechen so schnell wir nur können durch das niedrige Törchen. Auf der anderen Seite wollen wir es sofort hinter uns schließen, doch es klemmt und das gezeichnete Wolfsschwein dreht um und galoppiert auf uns zu. Es wirft sich im vollen Galopp auf den Bauch, die nach außen gedrückten Beine quetschen sich unter dem Tor hindurch – und Judith schreit „Lauf!” Doch ich bin aus kaltem Stein und kann mich nicht bewegen, spüre den heißen Atem der Chimäre an meinem linken Ohr.

Deutungen. Interpretationen. Assoziationen. Durcharbeitungen. Spuren.

Deutung der Traumstation vom 09.04.2020

Podcast der Traumstation (Traum 6) mit gelesenem Traum und Deutungsgespräch

Deutungen von Norbert Rath am 03.05. und 10.05.2020

Deutungen von Frank Werner Pilgram am 17.05.2020