Hotel Abgrund

10.04.2020

Guten Morgen Traumstation,

Ihre mit Spannung erwartete Deutung habe ich mit Genuss gelesen. Gehe ich recht in der Annahme, es sind Ihrer mehr als nur eine(r), die/der hier deutend, schreibend, mäandernd sich durch meinen Traum treiben ließen? Ganz herzlichen Dank!

Und: Wie schön, dass die Traumstation weiter geöffnet ist! Ich fasse Ihren Satz „also vielleicht ergibt sich wieder eine Gelegenheit“ deshalb gern als Einladung auf, Ihnen erneut einen Traum zuzuschicken. Bei diesem zweiten Traum handelt es sich, Sie werden es unschwer erkennen, um eine Fortsetzung des Traums 25. Diesen Traum „Gelb und Grün“ habe ich damals, es mag zwei Jahre her sein, an eine gute Freundin, die „sie“ in meinem Traum, geschickt – die noch am selben Tag darauf antwortete. Ihre Antwort ist die Fortsetzung meines Traum: Sie tagträumte ihn weiter, schrieb ihn um, wechselte die Perspektive. Ich wiederum literarisierte ihn, begab mich erneut auf die Reise.

Ich würde mich sehr freuen, begäben Sie sich erneut mit mir/mit uns, mit Koffer oder ohne, mit Geschenken oder frank und frei, in die Räume meines/unseres Traums – und deuteten ihn, den Traum vom „Hotel Abgrund“.

Hoffnungsvoll und in freudiger Erwartung

M

Traum: Hotel Abgrund

Ich sitze im Speiseraum und warte. Dass sie eingetreten ist, habe ich gar nicht bemerkt, aber nun kommt sie auf mich zu. Auf ihrem Gesicht eine handtellergroße schwarze haarige Spinne, die sich bewegt. „Du hier?”, höre ich. Und ich kann gar nicht hinschauen, kann ihr gar nicht ins Gesicht blicken, so ekelhaft, so ängstigend ist die Sinne, die es bedeckt. Dann bleibt sie vor mir stehen, hebt ihre Hand. Und mit Daumen und Zeigefinger entfernt sie diese Spinne an einem Bein und läßt sie zu Boden fallen. Die Spinne krabbelt weg und ihre Bewegungen klingen so laut, als liefen riesige Kellerasseln auf Fliesen. Es schüttelt mich, aber nun ich kann ihr ins Gesicht schauen. Aber ich sehe all meine – oder sind es ihre? – Ängste in ihrem Gesicht, alle eingraviert mit Rasierklingen, mit Fingernägeln. Unter ihren Augen schwarze Ringe, ihre Lippen spröde und rissig. Sie ist abgemagert – und ich denke: Wer kann schon essen in so einem Speiseraum?

All meine Fragen habe ich vergessen. Ich schaue zur Tür, ob er noch kommt. Aber sie schüttelt den Kopf, um meine unausgesprochene Frage wissend. Das was von ihren Haaren noch übrig ist, ist strähnig, dünn, verfilzt, ungewaschen, fettig. Ich rieche den säuerlichen Geruch, der mir von ihr entgegenschlägt. Das ist nicht sie, die mir gegenübersteht – das ist nur noch ihr Schatten.

Ihre rissigen Mundwinkel zucken, lange bevor sich Worte bilden. Ich verstehe nichts von dem, was sich aus dieser rauen Öffnung windet – ein Flüstern höre ich, einen Schwall von Silben. Dann beginne ich zu verstehen, was dieser zuckende Mund mit den rissigen Lippen sagt: „Das ist längst nicht alles! Wer hier im Hotel Abgrund einkehrt und eine Weile zu bleiben gedenkt, der zieht sich nicht nur nackig aus, sondern bis unter die Haut. Und wahrscheinlich noch weiter. Wahrscheinlich hast du Glück”, höre ich, „dass du mich überhaupt noch mit Haut und Haaren antriffst. Denn wer weiß, ob nicht irgendwann nur noch mein Skelett hier herumläuft.”

Gebannt starre ich in dieses so vertraute und nun so entstellte Gesicht. Ihre Lippen bewegen sich wieder. Und ich höre sie sagen: „Wir sind im Hotel Abgrund. Wir sind da, wo sich sonst niemand hintraut. Wo keiner freiwillig hinkommt, wenn er nicht davon ausgeht, alles, alles abzustreifen. Alles! Und – nur noch als Gerippe – vielleicht beginnen darf, sich neu anzukleiden.”

Noch immer stehen wir uns gegenüber. Sie und ich. Ich möchte wegschauen, kann aber nicht. Ich möchte weghören, kann aber nicht. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, aber meine Arme hängen schlaff von den Schultern, sodass ich die Hände kann ich nicht heben kann. Und sie spricht, spricht weiter: „Weißt du, er und ich waren letztens dabei, uns gegenseitig zu ritzen. Unter die Haut, ins Fleisch.” Und plötzlich kann ich durch ihre Haut, durch ihr Fleisch blicken, bis auf die Knochen. Und da sind sie: Hieroglyphen, eingeritzt in ihre Knochen: Rot in Weiß. Und in das Dröhnen in meinen Ohren hinein spricht sie: „Das willst du gar nicht wissen. Und eigentlich möchte ich dich verschonen.” Zum ersten Mal, seid sie vor mir steht, sehe ich in ihren Augen etwas von ihr, das nicht Schatten ist. Sie. Und sie flüstert: „Aber ich muss dir auch zeigen, wie gefährlich es war, herzukommen. Nur um zu gucken. Denn wer herkommt, der guckt nicht. Wer herkommt”, und nun überschlägt sich ihre Stimme, „der ritzt und spritzt und schreit und kotzt und heult und frisst und stirbt und steht wieder auf und schaut sich im Spiegel an und erkennt sich nicht.”

Sie streckt eine graue Hand aus, fasst mich am Arm, zieht mich mit sich, hinaus aus dem Speiseraum. Durch den Korridor, vorbei an den geschlossenen Zimmertüren, hinein in die Eingangshalle. Der Portier vor der Drehtür steht Wache und vertritt uns den Weg. Die Tür dreht sich in rasender Geschwindigkeit, ihre gläsernen Flügen flirren vor meinen Augen. Sie nickt mir zu und sagt: „Die Tür geht nur in eine Richtung, denn das Hotel Abgrund kann man erst verlassen, wenn man sich komplett aufgelöst hat. Man entschlüpft dann durchs Mauerwerk, ein bisschen wie ein Atemzug. Aber du sollst heil hier wieder raus. Du bist gar nicht bereit fürs Hotel Abgrund, du bist ausgestiegen, du hast den Koffer abgegeben, du bist zurückgefahren. Zurecht, es ist schlimm hier.” Dann tritt sie auf den alten Mann zu und hält ihm eine Spielkarte hin. Es ist der Joker. Der Portier blickt mit steinernem Blick auf die Karte und fragt: „Wirklich?” Und in diesem Moment weiß ich, sie hat nur diese eine Karte, diesen einen Joker. Und den will sie jetzt einsetzen, für mich. Damit ich entkommen kann, in meinem Bett aufwache und vielleicht alles vergessen kann. Die Drehtür steht still und ein harter Stoß befördert mich hinaus. Noch im Flug höre ich ihre Stimme: „Du bist nicht bereit für das Hotel Abgrund. Du bist mit dem, was zu Dir gehört, fremd hier.”

Deutungen. Interpretationen. Assoziationen. Durcharbeitungen. Spuren.

Deutung der Traumstation vom 29.04.2020

Podcast der Traumstation (Traum 31) mit gelesenem Traum und Deutungsgespräch

Vorausgegangener Traum „Gelb und Grün“, an den der Traum „Hotel Abgrund“ anknüpft.