30.03.2020
Sehr geehrte Traumdeuterinnen und Traumdeuter –
vielen Dank zur Einladung, Ihre E-Mail-Traumstation aufzusuchen. Ich nehme sie gerne an.
In den gegenwärtigen Zeiten klingt „Traumstation“ etwas nach „Raumstation“ – und weckt damit die Assoziation einer Raumbetrachtung aus weiterer Umlaufbahn … abgeschieden … Aber da die Welt gerade Kopf steht, ist Träumen und Traumdeuten vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten, sie wieder auf die Füße zu stellen … und ist die Psychoanalyse eine der wenigen Praktiken, die gerade kollektiv um sich greifenden ganz neuen Leiden der Seele zu „erden“.
Aber das Gefühl alptraumhaften Geschehens stellt sich angesichts der Zumutungen dieser Tage und Wochen offenbar vielen ein – und nicht nur uns. Wir – das sind sozusagen Traumerkunder auf der Schwelle zwischen Kunst und Nicht-Kunst, also gar nicht so weit weg von dort, wo Sie sich mit Ihrem Seminar, mit Missing Link und wohl auch mit Ihren Praxen niedergelassen haben.
Als Künstlerinnen und Künstler sind wir gerade im Rahmen unseres Projektraums mit der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema „Traumbeute“ für den Herbst dieses Jahres beschäftigt – allerdings dürfte die momentane europaweite Meuchelung der öffentlichen Kunst- und Kulturaktivitäten durch Viren-Albtraumgebilde und die parallele Wirtschaftsraumverwüstung das für eine Weile in den virtuellen Raum verbannen.
Es gibt gibt also endliche und unendliche Träume. Aber von Traumbeutenden zu Traumdeutenden: Das ist ja in der Psychoanalyse nicht anders … Und wie auch immer das dann ausgeht, schließt oder doch gar endet – ein ganz besonderer Augenblick.
Insofern werden Sie selbstverständlich gewusst haben, was Sie sich mit Ihrer Einladung und Zusage einer Deutung „sozusagen“ „möglicherweise“ eingehandelt haben – zumal ja mit Rücksicht auf Darstellung das in Wort und Bild Auftauchende eines Traums eine ganz andere Eigenzeit hat als dieser selbst.
Ich hatte also quasi schon Ihre Einladung angenommen, bevor ich sie las: „Lassen Sie sich anstecken von Ihren Träumen, sich beglücken, sich irritieren, spinnen Sie sie weiter, lassen Sie sich von ihnen treiben.“
Und ja, ich bin auf Ihre psychoanalytische Deutung sehr gespannt – insbesondere da in die künstlerisch weitergesponnen Träume „tatsächliche“ Träume eingewoben sind, oder vielleicht besser: als Oneirofakte den Artefakten ins Nest gelegt wurden und von uns abwechselnd bebrütet werden … Zudem gibt es diesen Traum (siehe unten) der schlicht insistiert, eine Art Schlüsseltraum ohne Zweifel, aber auch einer, aus dem manche rote Spur sich als roter Faden durch die Texte zieht …
Ich nehme Ihre Einladung also gerne an und schicke anbei das „Traumprotokoll“ eines Traums und folgend Traumbeutezüge, auch der Frage auf der Spur, worum es sich bei all diesem Beutemachen eigentlich dreht … und wo sich da wohl der Nabel findet. Ich tue das bis zum Schluss, oder bis Sie denn „Halt“ rufen … aber endlos ist es nicht :).
Ich bin auch deshalb gespannt auf Ihre Deutung, da zu meiner Darstellung des Traums und der Gedanken dazu jene Assoziationen nicht möglich sind, die sich als Einfälle beim Mitteilen, sozusagen in der Übertragung – und aus Ihrem Analysieren – ergeben. Insofern sind die separat folgenden Traumbeutelieferungen „eine Art Assoziationsgeschehen“.
Mit freundlichen Grüßen
K
Hier also der Traum (Beute folgt …) zu Ihrer Deutung:
Schlüsseltraum
Ich habe sie vom Bahnhof abgeholt. Ich trage ihre Reisetasche, eine Tüte mit Brot in derselben Hand. Je näher wir der Kirche in der Straße kommen, desto mehr verdüstern sich die Fassaden der Häuser, desto mehr verdunkelt sich der Himmel. Sie sagt mehrmals: Hier möchte ich nicht wohnen. Wir kommen auf der rechten Straßenseite an der Kreuzung vor der Kirche an und müssen warten, weil die Ampel rot zeigt. Mehrmals höre ich mich sagen: Hier würdest Du aber nicht wohnen wollen.
Hier wohne ich also. Ist das nicht schön? Die Häuserfront auf der linken Straßenseite wird noch schattiger und dunkler. Der strahlende Himmel taucht die Straße in einen irrisierenden Glanz unbestimmter Farbe, perlmutterne (!) Bronze. Ich sage beim überqueren der Straße: Gleich werden wir in eine Einfahrt einbiegen, durch die du alleine sicher nicht gehen würdest. Wir durchschreiten die Einfahrt, ich öffne die Haustür und wir steigen den schmalen Treppenaufgang hinauf.
An der Wohnungstür suche ich nach meinem Schlüssel. Als ich ihn finde, sehe ich sie erschrocken an: Über ihrer Schulter hängt lediglich eine kleine Tasche. Wo ist deine Reisetasche? frage ich. Schweigend geht sie um mich herum, ich komme ihr mit dem Blick entgegen und dann sehe ich die Tasche. Ich halte sie in der Hand. Durch die von mir aufgeschlossene Tür betritt sie den Flur. Zielstrebig geht sie zum Bad. Ich folge ihr, und als sie eingetreten ist, knipse ich das Licht an. Ich sehe ihre kurzen blonden Haare, ihre Beine. Ob ich mit ihr schlafen könnte? Im hellen Licht glänzen teure dunkelgrüne Kacheln, blitzen Armaturen. Sie macht eine anerkennende Geste. Dann geht sie durch das Bad weiter in die Küche, durchquert auch diese und kommt in das kleine Schlafzimmer, in dem nur zwei Bette stehen, jeweils an den gegenüberliegenden Wänden, nur durch einen schmalen Gang getrennt. Die Betten sind mit frisch gewaschener, ungebügelter weißer Wäsche bezogen, die noch feucht duftet. Beide Betten sind zerwühlt. Aber schon – bevor ich es verhindern kann – hat sie auch diesen Raum durchschritten.
Ich folge ihr in das nächste Zimmer: Seit damals habe ich es nicht mehr betreten. Sie sagt: Hier muß heute Nacht jemand geschlafen haben. Ich fühle mich erblassen und antworte: Das kann nicht sein. Sie schnüffelt. Schale, abgestandene und verbrauchte Luft. Ich gebe ihr recht. In meinem Kopf beginnt es fieberhaft zu arbeiten. Durch das kleine Oberlicht kann er nicht gekommen sein. Außer der Tür, die zu meinem Schlafzimmer führt, gibt es aber keine weitere. Auch das Bett, das in diesem Zimmer an der Wand gegenüber der Tür steht, ist zerwühlt: ein weiterer Hinweis, daß hier tatsächlich jemand geschlafen hat. Spuren regelmäßiger Benutzung im Raum. Während ich angestrengt überlege, rauscht ihre plaudernde Stimme an mir vorbei, macht mich unruhig. Sie ist sich des Problems in keinster Weise bewußt. Als ich meinen Blick über den Reisstrohteppich auf dem Boden gleiten lasse, erkenne ich am Fußende des Bettes eine Erhöhung. Eine Falltür. Ich gehe zu der Stelle und hebe den zerfallenden Teppich kurz an. Eine Falltür. Ich lasse den Teppich wieder sinken und folge ihr in die Küche. Dort suche ich nach einem Schloß.
Die Tür zwischen meinem Schlafzimmer und dem Raum des Unbekannten ist nur durch einen Bügel, den ich oft an Verschlägen gesehen habe, gesichert. Er ist über eine Krampe zu schieben, durch die dann ein Hängeschloß gesteckt wird. Ich finde ein Schloß, aber es fehlt der Schlüssel. Außerdem ist der Bügel abgebrochen. Ich trete erneut in das Zimmer des Unbekannten. Ich sehe jetzt, daß sich hinter dem Bett eine weitere Tür befindet. Voller Unbehagen schreite ich hinüber. Im Schloß dieser Tür steckt ein Schlüssel, den ich abziehe. Ich stecke ihn in das in meiner Hand liegende Schloß, das, wieder vollständig, nun auch funktioniert. Ich verlasse den Raum und verschließe die Tür.
Als ich in die Küche zurückkehre, erzähle ich H. von meiner Entdeckung. Er sitzt am Tisch und trinkt einen Milchkaffee. Ich äußere die Vermutung, daß von der anderen Seite ein weiterer Aufgang zur Wohnung führt. Und daß von dort die Tür hinter dem Bett zu erreichen ist. Er hört mir aufmerksam zu. Laß uns der Sache auf den Grund gehen, sagt er. Wir verlassen das Haus und begeben uns zu der Stelle, wo, hinten an dem kleinen Haus, der Aufgang meiner Meinung nach zu finden sein muß. Tatsächlich finden wir eine Treppe und in einem Windfang eine Tür. Wir öffnen sie und ich schicke ihn ängstlich vor. Er lacht. Gemeinsam steigen wir das schmale Treppenhaus hinan und geraten an eine weitere Tür. Das muß die hinter dem Bett sein, denke ich. Er drückt die Klinke und die Tür läßt sich ganz einfach öffnen. Wir treten aber zu meiner Überraschung in einen kleinen Flur, der zu einer weiteren Tür führt. Ich bin verunsichert.
Als wir – wiederum mühelos – die Tür öffnen, erblicke ich ein vollkommen zerfallenes Zimmer. An den Wänden stehen morsche Schränke, der Boden ist mit einer dicken Schicht grünen Mooses bedeckt. Mehrere Gegenstände sind in dieser sehr feuchten – Grünspan und Algen – grünen Schicht halb versunken. Ein großer länglicher Kasten aus schwarzem, mit weißen Intarsien versehenem Holz liegt vor der Wand gegenüber der Tür in der Schicht. Ich stehe an dieser Wand, vielmehr in der Tür, die nun tatsächlich in das Zimmer des Unbekannten führt und beobachte, wie er den Kasten öffnet. Der Deckel versperrt mir die Sicht. Er wühlt im Kasten herum. Ich sage mehrmals: Laß das doch besser. Er hört nicht. Das Innere des Kastens ist in mehrere Fächer unterteilt. Genau in der Mitte befindet sich ein verschlossenes Fach.
Mit Sicherheit enthält es die zerstückelte Leiche im Plastiksack von damals. In den anderen Fächern befinden sich alte Bestecke. Er kramt immer noch darin herum. Ich durchschreite vorsichtig das Zimmer, um nicht auszurutschen. Als ich an ihm vorbeigehe, denke ich erneut: Laß das doch lieber. Ich trete auf einen alten Schnürstiefel, der zur Hälfte in dem grünen Morast versunken ist. Er löst sich mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Grund. Wässrige, ziegelrostigrotfarbene Flüssigkeit wird unter der Sohle sichtbar. Ich schreite weiter, durch die Tür, gelange in den kleinen Flur. Als ich gerade die Klinke der Treppenhaustür fassen will, öffnet sich diese und ein Schatten huscht an mir vorbei. Ich greife sofort zu.
Ein kleiner, etwa zehnjähriger Junge steht mit angstgeweiteten Augen vor mir. Ich fasse den Stoff seines dunkelgrünen Anoraks und schüttele ihn. Was machst Du hier? frage ich ihn. Er antwortet, daß er den alten Mann besuchen will, der hier lebt. Ich glaube ihm, sehe ihn eine Weile an und lasse los. Nun gut, sage ich, dann lauf mal. Er hastet die Treppe hinab und davon. Ich kehre in den Morastraum zurück. H. hat das Zimmer verlassen und ich suche nach einem Schlüssel zu dem Raum des Unbekannten. In der Tür zu dem kleinen Flur steckt keiner. Aber in der Tür zum Zimmer des Unbekannten steckt auf der Seite des Morastzimmers ein alter rostiger Schlüssel, tief, bis zu seinem kreisrunden kleinen Ring. Ich ziehe ihn heraus und stecke ihn von der anderen Seite ins Schloß, schiebe die Tür zu und durchquere das Morastzimmer. Im kleinen Flur schließe ich die Tür zu ihm ab und steige die Treppe hinunter.
Ich fühle mich erleichtert. Unten übt sich eine Frau in einer Kampftechnik, Schattenboxen vielleicht. Sie hält in der rechten Hand einen speerähnlichen Gegenstand, ein aus zwei Bambusstöcken zusammengeschnürtes Gerät, das an einem Ende gabelförmig auseinanderläuft. Die Gabelenden werden von einer Querlatte auseinandergedrückt, und genau diese Strebe hat die Frau von oben so umfaßt, daß das lange Ende der Stöcke im rechten Winkel zu ihrem Handgelenk nach vorne steht. So sticht sie immer wieder ins Schilf. Ich fühle mich bedroht, bin aber angetan von ihren geschmeidigen Bewegungen. Als sie mich zu treffen sucht, umklammere ich die Spitze der zusammengebundenen Bambusstöcke, die immerhin einen Durchmesser von mindestens fünf Zentimetern hat, so, daß sie sich genau vor meiner Brust befindet und ich beide Daumen unten und die Finger beider Hände oben an der Stange habe. So kann ich mich kräftig gegen sie stemmen. Die Stange ist an die zwei Meter lang und die Frau stemmt sich jetzt mit ihrem ganzen Gewicht in die Gabel. Mit großer Kraft drückt und treibt sie mich rückwärts über den großen Rasen. Ich muß mich sehr anstrengen, um nicht auszugleiten. Die Bewegung wird immer schneller, immer lustvoller.
Während der Bewegung versenken wir unsere Blicke ineinander, vollkommen ernst, vollkommen distanziert. Sie ist schön: harte, blaugrüne Augen, ein mädchenhaftes Gesicht, dunkle, lange und über die Ohren reichende Haare. Es geht immer schneller und schneller. Plötzlich verwandelt sie sich in einen alten Mann, einen Opa mit überaus sympathischem Gesicht, der eine runde braune Metallbrille und eine sehr schöne braune Krawatte trägt. Auch ihm bereitet diese Art der Bewegung viel Spaß. Seine Augen sind geweitet vor Anstrengung. Die Stange hat sich um einen Meter verkürzt. Als die Bewegung abbricht, bin ich in Schweiß gebadet. Die Frau trocknet sich mit einem Handtuch das Gesicht. Langsam kommt sie mit ernster Miene auf mich zu. Das wars, sagt sie, ich gehe jetzt nach oben. Ich weiß, daß ich es akzeptieren muß, obwohl ich es schade finde. Als sie in ihrem hautengen zweiteiligen Trikot an mir vorüber geht, ohnehin sehr nah, reckt sie über ihre Schulter den Kopf zu mir und drückt ihre weichen und warmen Lippen auf meinen Mund. Ich spüre ihre warme und schmale Taille unter ihrem Trikot.
Nazis! höre ich H. in diesem Moment schreien. Entsetzt und ahnungsvoll renne ich die vordere Treppe zu unserer Wohnung hinauf, durchquere Flur, Bad und Küche und gelange in das Schlafzimmer mit den beiden Betten. Auf dem linken sitzt er und schaut mit angstverzerrtem Gesicht auf die Wand, hinter der das Zimmer des Unbekannten liegt. Sie ist vollkommen weiß, frisch gestrichen, und über ihre ganze Fläche sind Abdrücke blutigroter Hände verteilt, die von der anderen Seite durchdringen.
Deutungen. Interpretationen. Assoziationen. Durcharbeitungen. Spuren.
Deutung der Traumstation vom 18.04.2020