03. Mai 2020

Norbert Rath: Deutung des Traums „Ein Kirchhof mitten im Wald“

Vielen Dank für den Hinweis auf diesen phantastischen Traum und die Deutungs-Assoziationen der Zürcher Traumforscher dazu.
Ich fand, dass in diesen ein Aspekt nicht hinreichend berücksichtigt wurde, der der Verwandlung, einer fortlaufenden Verwandlung im wahren Sinne des Wortes. Ein Teppich verwandelt sich in eine Brücke, die in eine andere Welt führt. Die Träumerin verwandelt sich in eine Gestalt auf einem Photo. Die Szenerie verwandelt sich fortwährend: Hochzeitsgesellschaft, Kirchhof, Wald, Wiese, Morast, Schrebergarten außen, Schrebergarten innen. Die Kaninchen verwandeln sich aus potentiellen Opfern der Wölfe in Mitglieder der jagenden Meute. Der bedrohliche Wolf verwandelt sich in ein Schwein. Die Träumerin verwandelt sich in einen „kalten Stein“.

Die Schrift der Engel wird sichtbar. „Mit der Gefahr wächst das Rettende auch“. Die Vielfalt der Verwandlungen scheint mir einen Schlüssel zum Verständnis des Traumes zu enthalten. Aber: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“ (Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka). Was bedeutet es, dass sich eine Person (die Träumerin) in eine Zeichenabfolge (nämlich auf einem Photo) verwandeln kann und in dieser Form neue Verfolgungen erlebt, und dass wiederum eine Zeichenabfolge (die Schrift der Engel) das Ende der Verfolgungsjagden einleitet?

Als literarische Modelle fallen mir ein: ‚Alice im Wunderland‘ mit der Folge der von von ihr an sich selbst und an anderen beobachteten Verwandlungen, Alice hinter den Spiegeln mit dem darin einschlägigen Motiv der rasenden Verfolgungsjagden („Hierzulande musst du so schnell rennen wie du kannst, nur um am gleichen Platz zu bleiben“) , die Narnia-Bücher von C.S. Lewis mit dem Eintauchen in die Anderswelt von Narnia durch einen Schrank (1. Bd.) bzw. durch das Eingehen in ein Bild, das zuerst friedlich an der Wand hängt, aber plötzlich zur Wirklichkeit wird, indem die darauf dargestellten Wellen plötzlich durchs Zimmer toben.

Ein Traum wie dieser erfordert eigentlich seine eigene Semiologie.

10. Mai 2020

Für zentral halte ich unter den verwandlungen die in „kalten stein“. schon wegen der paradoxalität des fühlens: wer ist es, der hier noch fühlt, dass dieser stein, in den sich die protagonistin des traums verwandelt hat, kalt ist? sie kann ja nicht länger das subjekt dieses kältegefühls sein. wer aber ist das subjekt, das weiter etwas erfährt (und die erzählung des erfahrenen fortsetzen kann), nachdem die trägerin der erfahrung sich in eine skulptur verabschiedet hat? im märchen müssen figuren, die in stein verwandelt worden sind, immer durch andere (seien es geschwister, seien es liebende, seien es helferfiguren) erlöst werden. wer in stein verwandelt ist, hat keine souveränität über die folge seiner verwandlungen mehr.

höchst spannend ist die verwandlung in stein auch wegen der hier in den traum selbst eingedrungenen weigerung, sich von diesem albtraum der fortgesetzten jagden, verfolgungen und verwandlungen noch länger schockieren zu lassen. wer sich in gefühllosen stein verwandelt hat (oder in ihn verwandelt worden ist), ist nicht länger terrorisierbar, angreifbar, nicht einmal bedrohbar. alle angriffe gleiten an ihm/ihr ab. er/sie hat sich trotz allem nicht mit den angreifern identifiziert, um den preis des lebendigseins. wieder die frage nach dem subjekt: wer ist das subjekt, das weiterträumt, nachdem die traumheldin in stein verwandelt ist? wer führt buch über ihr fühlen, über ihr selbstgefühl? wer führt in diesem traum die regie? wer ist der oder die, die den bann löst, den stein aufsprengt, die auferstehung bewirkt? wer ist das subjekt, das den traum / die folge der verwandlungen und fluchten fortsetzen kann?

gibt es ein subjekt der (er-)lösung? im traum gibt es eine „judith“. judith ist der name der frau, die holofernes erschlagen und damit die belagerung und bedrohung ihres gemeinwesens zu einem ende gebracht hat, eine art weiblicher messias.

Traum: Ein Kirchhof mitten im Wald

Deutung der Traumstation vom 09.04.2020

Podcast der Traumstation (Traum 6) mit gelesenem Traum und Deutungsgespräch

Deutungen von Frank Werner Pilgram am 17.05.2020