Frank Werner Pilgram: Ein Kirchhof mitten im Wald

17.05.2020

Frank Werner Pilgram: Deutung des Traums „Ein Kirchhof mitten im Wald“

Sandro Botticelli „Das Gastmahl des Nastagio Degli Onesti. 1. Episode“ (1483). Prado, Madrid

Sandro Botticelli „Das Gastmahl des Nastagio Degli Onesti. 2. Episode“ (1483). Prado, Madrid

Sandro Botticelli „Das Gastmahl des Nastagio Degli Onesti. 3. Episode“ (1483). Prado, Madrid

Liebe S

um keiner Chimäre aufzusitzen ist vorauszuschicken, daß Traumdeutungen bekanntlich ohne die freien Assoziationen des Träumers, die Kenntnis des Tagesrestes und der Übertragungssituation per se zum Scheitern verurteilt sind. Prousts in der Recherche auf das Kunstwerk gemünzte Diktum, „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst“, gilt umso mehr für jede Verhandlung des schriftlich fixierten und übermittelten Traums. Wenn der Klippe des Deuterzentrismus schon nicht zu entgehen ist, so ließe sich doch zumindest ein Schiffbruch mit Sirenen versuchen, indem die ästhetische Verkörperung als Leitfaden der Interpretation dient.

Folgt man mithin, wie es die Decamerone-Situation Anno 2020 wohl nahelegt, der poetischen Einladung, so schlägt die Erzählung auf höherer und tieferer Ebene, der von Form und Material, die Augen auf: Statt in abgetretenen, psychologisierenden Bahnen zu spuren, stolpern wir mit dem Prinzen Ahmed und der Fee Pari Banu auf den fliegenden Teppich, der uns in die düsteren Räume der Kindheit trägt, oder reiben mit Aladin an der Wunderlampe, um uns wie die Prinzessin Bedrulbudur in tausendundeiner Hochzeitsnacht im Schlaf durch Zeit und Luft entführen zu lassen. Und ist es nicht das Pergament als Palimpsest, in dem das Licht des alten Kronleuchters die nur oberflächlich gelöschten Zeichen einer früheren Schrift sichtbar macht? So infiziert uns das Leuchten der Corona mit dem überschüssigen Rand eines Begehrens, dessen Zentrum verdunkelt bleibt, das aber über die eingerollte imaginäre Brücke zum Aufrollen des Traums treibt. Es wäre nicht möglich ohne die tastende Rückversicherung am alten Halbrund der Mutter, jenem ersten Möbel in der Welt des gefallenen Neugeborenen, in dem Bertram Lewin ebenso hellsichtig wie einfühlsam die „Dream screen“ erkannt hat.

War es nicht auch ein großer Vater unserer Disziplin in Zürich, Fritz Morgenthaler, der die primäre psychoanalytische Situation als einen nach langem Gastmahl verlassenen, unaufgeräumten Tisch beschrieb und die Aufgabe der Kur damit als Rekonstruktion der Teilnehmer, ihrer Geschichten, Beziehungen, Leidenschaften und Gespräche? Das Imaginäre spricht, da es aus lebensgeschichtlicher Frühe kommt, im Bild, und daher ist es nur konsequent, beim zweiten Anlauf in ein solches Imago zu stürzen. Auch Carrolls Alice und Cocteaus Orphee betreten die Unterwelt der abgeschiedenen Lieben durch den Spiegel, dort begegnen wir der Hochzeit unseres Entstehens, die uns zu ewiger Übersetzung sei’s verdammt, sei’s verführt:

„Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen
und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen
und die furchtbar verschweigende Schlucht, in welcher die anderen
enden: immer wieder gehn wir zu zweien hinaus
unter die alten Bäume, lagern uns immer wieder
zwischen die Blumen, gegenüber dem Himmel.“
(Rainer Maria Rilke)

Die erste gegengeschlechtliche Liebe im Leben des Mädchens ist der Vater, an ihn adressiert es sein größtes Geschenk, den Heiratswunsch, durch den es sich in Identifikation mit der Mutter an deren Stelle in die Urszene träumt. Doch ach, auch die erneute Landung auf dem Boden der Realen ist hart: Statt das ihr süße Sonne lacht, droht schon die ewige Nacht. Denn die Erkenntnis des Todes hat uns aus dem Paradies vertrieben und zu gefallenen Engeln gemacht, die Sterblichkeit ist das Fundamentum in re, auf dem das Inzesttabu gründet, denn die Eltern sterben im Gang des Schicksals vor den Kindern.

„Josef K. träumte:

Es war ein schöner Tag und K. wollte spazierengehen. Kaum aber hatte er zwei Schritte gemacht, war er schon auf dem Friedhof.“

Vielleicht daß wir wie Kafkas Traumkünstler, wenn auch nicht jede Nacht, so doch zumindest einmal in jenen tiefsten Schoß, in Hochzeitsgemach und Grab der Eltern, zum Nabel der Welt hinabmüssen, um unseren eigenen Signifikanten, den Namen, den nicht sie uns gegeben, sondern jenen, den wir uns gemacht haben, auf dem Grabstein lesen zu können?

Durch das zweideutige Gift der Schlange und das notwendige, konstitutive Verbot wird unser Wunsch häßlich und böse, als Ziege und Bock, das Tier mit den vier Armen und vier Beinen, reiten wir fortan in allen Sturmhöhen zur Hölle, und das wiedergefundene Paradies wäre nach Kleist bestenfalls im Jenseits darüber hinaus zu denken.

Wie Hänsel und Gretel irrt unsere verschmähte und nun verschmähende Heldin durch den Wald, auf der Suche nach einer Lichtung, um sich schließlich auch noch in Rotkäppchen zu verwandeln, denn von hinten hetzen sie nun die Wölfe wie der Cherub mit dem Flammenschwert den Sünder. Auch der Verschiebungsversuch auf den vielfachen Kinderwunsch ist angesichts der einmal entfesselten Treibmacht zum Scheitern verurteilt, denn selbst in Kaninchengestalt ist es a immer noch der vom Vater ersehnte Nachwuchs, so daß sich die kleinen Fruchtbarkeitsverkörperungen konsequent mit den jagenden Wölfen verbinden und deren Kraft nur noch verdoppeln.

T-shirt-Image von Zazzle, crookedwide, VA, USA

Francesco del Cossa „Allegorie des April“ (1470) Fresco, Palazzo Schifanoia, Ferrara

In höchster Belagerungsnot bedarf es schon des Freundschaftsbündnis’ mit der wie die Dea ex machina auftauchenden jüdischen Heroine Judith, um dem aufs Männliche projizierten Begehren zu wehren. Die Verfolger mutieren – der Generationenkonflikt in Deutschland nach den nationalsozialistischen Massenmorden legt es nahe — nun gänzlich zu faschistischen We(h)rwölfen, wie es sich ja schon im braunen Stubenambiente zu Anfang des Traumtextes angedeutet hatte.

Die Situation spitz sich zu, als die projektive Abwehr zusammenbricht und der Wunsch, sich endlich mit dem Raubtier zu vereinigen, die Flüchtende zusehends lähmt.

Lilith Stangenberg als Ania in Nicolette Krebitz „Wild“, 2016, Szenenphoto.

Der ebenfalls braun konnotierte Muttersumpf tut ein Übriges, um die aufgewühlte Träumerin dem Erträumten auszuliefern, so daß es am Loch in der Dornröschen­hecke, an der entscheidenden Pforte, schließlich zum Showdown kommt. Das wiederkehrend Verdrängte, der ödipale Wunsch, erreicht den Höhepunkt und die Abwehr muß noch einmal alles an Metamorphosen aufbieten, um die Realisation zu verhindern: Der Wolf verwandelt sich in „ein dickes, schwarzes Schwein“ – Bulgakows Margarita läßt grüßen —, aber selbst durch die Verwandlung in eine sublimere Zeichnung läßt sich dessen schweinisches Begehren offensichtlich nicht bannen. Am Ende verschmilzt die derart ersehnte, penetrierende Macht zu jenem Ungeheuer, dessen feuriger Odem, nicht immer zum eigenen Vorteil, selbst verschlucktes Blei zum Schmelzen bringt. In der Petrifizierung der Protagonistin aber findet es sein Pendant und die Traumpartie ihr finales Patt. Die in der Chimaira verkörperte Rachemacht des sexuellen Opfers — der geopferten weiblichen Sexualität — harrt also noch des Bellerophons, der da kommen mag; dann womöglich im nächsten Traum.

Griechisches Mosaik „Bellerophon tötet die Chimaira“ (ca. 300–270 v. Chr.), Rhodos, archäologisches Museum

Does the Rising Sun affright
Every Wolfs & Lions howl
Raises from Hell a Human Soul
The wild deer, wandring here & there
Keeps the Human Soul from Care
The Lamb misusd breeds Public Strife
And yet forgives the Butchers knife
The Bat that flits at close of Eve
Has left the Brain that wont Believe

From: Auguries of Innocence
By William Blake

Herzliche Grüße
Dein

Fra Pellegrino, detto il maestro dei pipistrelli

 

Traum: Ein Kirchhof mitten im Wald

Deutung der Traumstation vom 09.04.2020

Podcast der Traumstation (Traum 6) mit gelesenem Traum und Deutungsgespräch

Deutungen von Norbert Rath am 03.05. und 10.05.2020