Traumstation: A churchyard in the middle of the forest

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09.04.2020

Liebe Frau S

vielen Dank für Ihr Vertrauen und Ihr Interesse und vor allem für Ihren so spannenden Traum. Wir schicken Ihnen im Anhang unsere Deutung schriftlich zurück und hoffen, dass Sie etwas mit ihr anfangen können, dass sie Ihnen auch Spass macht. Wir haben Ihre Träume gemeinsam zu dritt gedeutet, weil so das Verständnis nochmals breiter und interessanter wird – und davon eine Tonaufnahme gemacht. Wenn Sie Interesse daran haben, können wir Ihnen diese Aufnahme gerne schicken.

Träume auf diese Art, die sich von der Situation in der Praxis durchaus unterscheidet, zu deuten, ist für uns ein Erlebnis und ein Glück, bei dem man immer wieder neue Erfahrungen machen kann und wird. Deshalb wollen wir Sie auch fragen, ob Sie eventuell damit einverstanden wären, wenn wir Ihren Traum und die Deutung dazu – die natürlich Ihnen ist, das ist keine Frage – eventuell auch veröffentlichen würden. Falls ja, würden wir Ihren Traum und unser gemeinsames Gespräch dazu gerne als Podcast veröffentlichen. Dies selbstredend in anonymisierter Form, so also, dass keine Angaben zu Ihrer Person erkennbar sind und auch etwaige Personen- und Städtenamen im Traumtext unkenntlich gemacht werden. Es würde einen Eindruck davon geben, was Träume sein können, was alles in ihnen ist, was sie mit uns machen. Aber selbstverständlich würden wir das nur mit Ihrer ausdrücklichen Einwilligung tun – das versteht sich von selbst. Wenn Sie es nicht möchten, ist das überhaupt kein Problem, wir verstehen es bestens, es ist Ihr gutes Recht.

Aber nochmals: Vor allem hoffen wir, dass Sie unsere Sichtweise auf Ihren Traum anspricht und Ihr Interesse weckt.

Traumstation: Deutung des Traums “Ein Kirchhof mitten im Wald” (im Podcast der Traumstation Traum 6)

In ihrer Zuschrift schreibt die Träumerin vom Albtraum “da draussen”, von der Coronavirus-Pandemie und den Massnahmen dagegen, vom “Albtraum, der durch die Strassen weht, sich in Windfängen von Supermärkten verfängt, aus Desinfektionsflaschen zu uns herüberweht, uns einnebelt”, und schreibt: “Dann lieber träumen …” Der Traum aber, den sie uns zuschickt, ist keine faszinierende Idylle “da drinnen”, kein schönes Refugium, kein “sicherer innerer Ort”, sondern auch dieser Traum nimmt den Albtraum da draussen mit auf, erfährt eine atemberaubende Beschleunigung, treibt aus dem Innen heraus, es weht ihn bis zu uns heran, an die Traumstation.

Ein faszinierender Traum, und mit jedem Lesen leuchten neue Facetten auf. Auffällig an dem Traum ist zunächst – wenn man vom Inhaltlichen zunächst einmal absieht – der Umgang mit Beleuchtung, mit Farbe und mit Bewegung. Zu Anfang ist alles statisch, ein Standbild, alles scheint seit 100 Jahren genau gleich dort zu stehen, wie angestaubt, trübe, in Brauntönen. Aber ganz so statisch und abgeschlossen ist das Bild dann doch nicht: Die Träumerin stolpert zunächst über eine aufgerollte Teppichbrücke, und stürzt dann in eine Fotographie, die zunehmend Bewegung, Farbe und den Charakter eines Gemäldes annimmt – von einer Dokumentation zu etwas Dynamischem, was man selber schafft -, der Rahmen wird vergoldet, die Beleuchtung steigert sich zur hellen Mittagssonne. Die Bewegung steigert sich zunehmend zur Flucht, und zugleich auch zur Jagd, alles gerät durcheinander, bald ist schon gar nicht mehr klar, wer jagt und wer gejagt wird.

Die Wölfe tragen plötzlich Engelszeichen, die Kaninchen gehören plötzlich zur jagenden Meute – und auch die Träumerin scheint sich nicht bloss auf der Flucht, sondern auch auf der Jagd zu befinden, wird doch die Perspektive der Träumerin auf einmal sehr unklar: Sie hört den keuchenden Atem und sieht die heraushängenden Zungen, obschon die Meute doch hinter ihr sein sollte.

Das macht dann auch Angst – das Zusammenkommen von Dingen, die nicht zusammengehören, die Unklarheit der Perspektive – die Perspektive auch, dass die Träumerin vielleicht doch auch zur jagenden Meute gehört. Schon zu Beginn hat sich das abgezeichnet, als der braune Holztisch nicht nur in der Ecke stand und von Stühlen und Bänken umgeben war, sondern eben in die Ecke gedrängt und umzingelt war. Und so sucht die Träumerin einen Ausweg aus dieser atemraubenden Beschleunigung, aus diesem zunehmenden Durcheinander, aus ihrer Mittäterschaft als Verfolgerin, ihrer eigenen Lust als Jägerin, Lust an dem ganzen Keuchen und Jagen – sie will es aufhalten, die Notbremse ziehen: Sich lähmen, Steckenbleiben im Morast, durch ein Loch in der Hecke davonkommen, das Schrebergartentor schliessen – zurück in die biedere Schein-Idylle, sie will das Standbild zurück, aber das ist nicht zu haben, wieder wird rasch unklar, wer auf welcher Seite des Törchens ist, die Wildsau drückt sich durch, und dann die letzte Notbremse, die Versteinerung der Träumerin, kalter Stein ist sie, als sie den heissen Atem der Chimäre, des Mischwesens spürt, des Mischwesens, als welches sie sich auch selber erkennt: Kaninchen, Wolf, Wildsau und so vieles mehr.

Von der Dunkelheit ins Licht will die Träumerin, “Hier ist es so dunkel, dort wird es hell sein – hoffe ich.” Vielleicht auch, was ihr Verhältnis zu ihrem Vater anbelangt, aber was heisst das, ins Licht, an die Lichtung? Sie gelangt über die Verklärung in die Aufklärung, an die offene Lichtung, aber dort wo es hell ist und man klar und weit sieht, dort wird der Horizont bedrohlich und engt sich ein, der Rückweg in den Wald ist nicht zu haben, und es geht über in diese atemberaubende Verfolgungsjagd.

Ein zu Anfang statisch erscheinendes, eingefrorenes Bild – vielleicht tatsächlich auch ein Bild von Täterschaft und Schuld des Vaters, lässt doch die rechte Ecke, der umzingelte Tisch, das Braune auch an das Politische denken – bekommt Risse, gerät gewaltig in Bewegung, in eine Bewegung, die auch Täterschaft und Schuld der Träumerin selbst zum Vorschein bringt, in eine Bewegung, die sich nicht aufhalten lässt, allem Steckenbleiben und Versteinern zum Trotz. Ist das, ist der Traum, diese Bewegung das Geschenk an den Vater?

Es kommt also zusammen, was bisher nicht zusammen gehört hat, nicht zusammen gesehen wurde, wie ja auch der Titel schon andeutet: “Ein Kirchhof im Wald”, im Wald, wo er ja gar nicht hingehört, wo auch schon klar wird, dass in diesem Traum die Kirche nicht im Dorf gelassen wird. Ein grosser Wunsch, Zusammenzukommen, mit anderen Menschen – worauf sich der einleitende Text zur aktuellen Situation, zur Isolation zu Hause auch bezieht, eine Situation ja auch fast wie im Krieg, mit den leeren Strassen -, ein Zusammenkommen mit dem Vater auch, ein Wunsch, der auch Angst macht. Es werden ständig neue Brücken und Übergänge gebaut, und diese Brücken sind auch nicht so einfach begehbar und standfest; es stellen sich ständig Bilder ein, die aber auch immer wieder verschwinden – es sind Brücken, die nicht unbedingt Halt geben, über die man stolpert und stürzt.

Mehr zum Traum:

Traum: Ein Kirchhof mitten im Wald

Podcast der Traumstation (Traum 6) mit gelesenem Traum und Deutungsgespräch

Deutungen von Norbert Rath am 03.05. und 10.05.2020

Deutungen von Frank Werner Pilgram am 17.05.2020